Als Psychotherapeutin habe ich einen ungewöhnlichen Job. Ich habe mit Themen zu tun, die andere nicht unbedingt jeden Tag mitbekommen. ADHS z.B. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Manchmal mit H (Hyperaktivität), manchmal ohne. Dann einfach ADS.
Auch wenn ich nicht mit Kindern arbeite, sondern Erwachsenen, habe ich zum einen erwachsene Patient*innen, die AD(H)S haben, zum anderen welche, deren Kinder betroffen sind.
Dass das etwas ist, was die gesamte Familie beschäftigt, habe ich mitbekommen. Dass Eltern und Lehrer*innen hier z.T. Schwerstarbeit leisten, ebenfalls. Was mir aber bisher nicht klar war, ist: was weiß eigentlich der normale Mensch von nebenan über dieses Thema? Diejenigen, die weder beruflich noch privat damit zu tun haben? Diejenigen, mit denen aber Betroffene und deren Eltern zu tun haben?
Der Reihe nach: kürzlich ist das Thema ADHS bei mir ein Stückchen näher gerückt, weil es im unmittelbaren Bekanntenkreis aufgetaucht ist. Das war für mich ein Grund, mehr mit anderen darüber zu sprechen und zu recherchieren. Und ich bin gelinde gesagt schockiert.
Die Sätze, die mir entgegenkamen, hielt ich für ausgestorben, für ein Relikt aus vergangenen Jahrzehnten.
„Aber ist das nicht nur eine Modeerscheinung?“
„Mit richtiger Erziehung passiert sowas nicht.“
„Haben die es denn schon mal mit Globuli versucht?“
„Wenn man auf Zucker verzichtet, kann sich jedes Kind konzentrieren.“
„Das liegt alles nur an zu viel Medien.“
„Früher gab es das doch auch nicht.“
„Also ich bin ja total gegen Medikamente.“
Offenbar habe ich hier in einer Blase gelebt. Eine Blase, in der es allgemein bekannt ist, dass ADHS ein neurologisches Phänomen ist, das weder durch Eltern „anerzogen“ noch durch Medien, Ernährung, die falsche Schule oder was auch immer „erzeugt“ worden ist. Es ist eben da oder nicht da. Aber da es eben nicht rein körperlich ist, so wie z.B. eine Sehschwäche oder ein verkürztes Bein, wird gleich mal davon ausgegangen, dass es „mit genug Willenskraft“ wieder weggeht. Wenn Mami A Mami B erzählen würde, dass ihr Kevin jetzt eine Brille bekommt, würde Mami B niemals antworten „Aber habt ihr es denn schon mit Globuli versucht?“ Die Lehrerin würde nicht davon ausgehen, dass Familie Schulze Kevin halt einfach nicht im Griff hat/zu viel arbeitet/ihm zu viel Computerspielen erlaubt/Kevin sich einfach mal zusammenreißen muss und plötzlich kann er wieder richtig sehen!
Und hier wird es echt dramatisch – denn 10, 15, manchmal auch erst 30 Jahre später kommt Kevin dann in meine Praxis und fragt sich, woher denn sein geringes Selbstwertgefühl und seine Depressionen und dieser ständige innere Leistungsdruck kommen. Kann ich erklären: vom Leben mit einer unsichtbaren Behinderung. Vom ständigen Gemessen werden am Leistungsniveau aller anderen, die diese Beeinträchtigung nicht haben. Von der Unterstellung von Nachbarn, Freunden, an der Uni, bei der Lehrstelle, in der Freizeit, z.T. der eigenen Eltern, man würde ADHS als Ausrede benutzen, um weniger zu leisten. Vom dauernden Erleben, dass man bei fünffacher Anstrengung trotzdem nur auf ein kleineres Ergebnis kommt als die Mitschüler*innen, Kolleg*innen, Kommiliton*innen. Das kann ganz schön fertig machen. Und wenn es dann niemanden gibt im Umfeld, der bereit ist, diese Anstrengung anzuerkennen, fühlt sich das verdammt einsam an.
Dazu kommt die Darstellung in den Medien, die das Bild in der Öffentlichkeit prägt, was ADHS bedeutet – und was Ritalin eigentlich macht.
In einem SZ-Interview von 2013 mit Psychiater Adam Alfred zum Thema Ritalin bei ADHS (SZ 2. Februar 2013, „Es kann ein Segen sein“ https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/adhs-medikament-ritalin-es-kann-ein-segen-sein-1.1589508-0#seite-2) liest man Fragen wie:
„[…] weil das Kind so schön ruhig gestellt ist?“ (Ja, dauernde innere Unruhe ist fies. Für einen selbst und für die Umgebung. Es gibt Kinder, die sind aufgrund ihres unbehandelten ADHS nicht in der Lage, Freundschaften aufzubauen. Was glauben Sie, was die von Eltern, in Schule und Kindergarten zu hören bekommen? Das macht was mit einem.)
„Warum unternehmen Sie dann trotzdem solche Eingriffe in die Persönlichkeit kleiner Menschen?“ (Hier hat Herr Alfred bezeichnend geantwortet: manchmal ist der Verzicht auf Medikamente „eine unterlassene Hilfeleistung“.)
„Offenbar tritt ADHS häufiger in sozial schwachen Familien auf.“ (faktisch falsch!! Was aber passieren kann ist, das durch unentdecktes ADHS keine Therapie erfolgt, dadurch nicht das eigentlich mögliche Bildungsniveau erreicht wird, Arbeitsplätze nicht gehalten werden können und Menschen in Hartz IV etc. abrutschen. Und jemand mit dieser „Karriere“ wird auch bei den eigenen Kindern nicht als erstes vermuten, dass hier eine unentdeckte neurologische Besonderheit im Spiel ist.
Ebenso können Menschen mit hohem Bildungsniveau und hohem Einkommen ganz anders kompensieren, z.B. weil sie sich Nachhilfe, externe Kinderbetreuung, teure Freizeitgestaltung etc. leisten können. Das ADHS-Kind, dass aus jedem Fußballverein rausfliegt, aber mit dem privaten Boxlehrer lernen kann, Aggressionen abzubauen, Selbstwert aufzubauen, kann sich komplett anders entwickeln, als ein Kind ohne diese positiven Erfahrungen. Ebenso sind Konzentrationstrainings oder Rechtschreibtrainings keine Kassenleistung und kosten teilweise mehrere 100 Euro über Monate oder Jahre. Diese Option steht nur Menschen offen, die sich das leisten können – genauso wie privat bezahlte Psychotherapie, wenn es keine Therapieplätze innerhalb der kassenärztlichen Versorgung gibt.)
„Ist ADHS überhaupt eine Krankheit? Oder gehört es zu den erfundenen Leiden der Pharmaindustrie?“ (So eine Frage stellt keiner mehr, der Menschen mit ADHS persönlich kennengelernt hat.)
„ADHS wächst sich also meistens aus?“ (Nein!! Symptome können sich verändern und Menschen können lernen, kompensierende Fähigkeiten zu entwickeln, z.B. streng mit Kalendern und To Do Listen zu arbeiten etc. Die Hyperaktivität kann zurückgehen. Aber ADHS geht nicht einfach weg. Noch während ich meine Ausbildung zur Psychotherapeutin gemacht habe, gab es keine Zulassung für ADHS-Medikamente bei Erwachsenen. Man musste versuchen, bei Patienten ab 18 eine*n freundliche*n Psychiater*in zu finden, der es einem „off label“ verschrieb. Erst im Sommer 2011 ging den zuständigen Behörden auf, dass das Gehirn von Menschen mit ADHS nicht plötzlich im 19. Lebensjahr sagt „ich kann`s jetzt!“ und die Zulassung wurde erteilt.)
„Was bedeutet es bis dahin [bis zum Erwachsenenalter] für das Selbstwertgefühl eines Kindes, wenn es nur mit Medikamenten funktioniert?“ (Ich komme zurück auf das Beispiel Sehschwäche: ja, es kann einen Knacks für das Selbstwertgefühl machen, mit Brille zur Schule zu gehen. Es kann zu Hänseleien kommen. Es kann sich für das Kind doof anfühlen. Aber niemand würde deshalb auf die Idee kommen, dem Kind keine Brille zu geben. Wir würden die Vorzüge betonen, wir würden dem Kind erklären, dass es so leichter sehen kann und keine Kopfschmerzen mehr vom Entziffern der Tafel bekommen muss. Dass es jetzt schneller seine Hausaufgaben schafft und mehr Zeit zum Spielen hat. Hänseleien würden wir entschieden entgegentreten, auch mit dem Hinweis, wer sonst noch eine Brille trägt und dass es normal und alltäglich ist. Bei ADHS ist das nicht so. Eltern stehen unter dem Generalverdacht, „es sich leicht zu machen“. Das Kind „für mehr Funktionieren“ mit Drogen vollzupumpen, obwohl es doch bloß… (und dann startet wieder die ganze Globuli/Fernsehen/Ernährungs- etc. Litanei. Wenn man diese Vorurteile mal streichen würde, wäre den Betroffenen und ihren Familien schon sehr geholfen. Und nein, ich habe nichts grundsätzlich gegen Homöopathie und habe diese auch schon selbst genutzt. Aber ich würde damit nicht versuchen, meine Brille zu ersetzen.)
Wer sich zum Thema weiter informieren möchte und genug Englisch kann, dem kann ich sehr den Youtubechannel von Jessica McCabe „How to ADHD“ und ihren Tedtalk „Failing at normal. An ADHD success story“ https://www.youtube.com/watch?v=JiwZQNYlGQI
empfehlen. Frau McCabe erklärt auf beeindruckende Weise ihre Reise mit ADHS und was ihr geholfen hat.
Zum Abschluss noch meine persönliche Antwort auf ein paar Fragen, die Sie sich vielleicht jetzt stellen:
- Muss man ADHS immer mit einem Medikament behandeln? Nein, das ist immer eine Einzelfallentscheidung gemeinsam mit Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen. Die Symptome sind nicht gleich ausgeprägt bei jedem und die jeweilige Lebenssituation spielt eine große Rolle.
- Ist ADHS erblich? Es gibt eine hohe genetische Komponente, daher macht es immer Sinn, bei einer Diagnose auch in die (undiagnostizierten) Eltern- und Großelterngenerationen zu schauen. So manchem kommen dann heute noch die Tränen über eine späte Anerkennung, nicht „einfach zu blöd“ zu sein.
- Welche Rolle spielt Psychotherapie? Sie kann helfen, kompensierende Fähigkeiten zu entwickeln, z.B. Strategien gegen mangelnde Impulskontrolle (wie verhindere ich, dass ich 12 Stunden Netflix schaue statt zu lernen, wie gehe ich mit meinen Aggressionen gut um, …), Lernstrategien für Schule oder Studium, „life hacks“, um mit täglichen Anforderungen wie Haushalt oder Job besser zurecht zu kommen und für sich selbst gute Entscheidungen zu treffen, z.B. welches Berufsfeld passt gut. Gerade in Kombination mit Medikamenten kann das sehr wirksam sein.
- Wie stellt man ADHS überhaupt fest? Die Diagnostik setzt sich zusammen aus verschiedenen Bausteinen, i.d.R. ein ausführliches Interview, Fragebögen für Betroffene, Eltern, Lehrer*innen, Sichten der Grundschulzeugnisse, IQ-Testung, manchmal noch EEG und weitere Untersuchungen.
- Ich glaube, mein Kind ist betroffen. Was kann ich jetzt tun? Da die Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen katastrophal überlaufen sind, ist die erste niederschwelligere Anlaufstelle oft der*die Kinderärzt*in. Häufig kann er oder sie weiterverweisen oder schon mal erste Rückmeldung geben zu den Symptomen. Eine psychotherapeutische Sprechstunde kann man (Stand Januar 2022) am einfachsten über die Eterminservicestelle online buchen. Dort wird angezeigt, welche Kinder- und Jugendpsychotherapeuten in der Umgebung gerade freie Termine für eine Sprechstunde haben. Damit hat man noch keinen Therapieplatz, aber schon mal einen Fuß in der Tür. Die Wartezeit für einen Therapieplatz bei Kindern beträgt häufig 6 Monate und mehr. Daher unbedingt auf mehrere Wartelisten gehen, um die Chancen zu erhöhen. Auch macht es Sinn, die Lehrer*innen anzusprechen auf den Verdacht, und explizit nach Erfahrungen mit ADHS-Kindern zu sprechen. Wer an der Schule kennt sich aus und kann unterstützen? Evtl. kann der*die Schulpsycholog*in eingeschaltet werden.
Zurück zu meiner Bubble: mein Artikel wird nicht die Welt verändern. Aber wenn ich in Zukunft Patient*innen mit ADHS oder deren Eltern in meiner Praxis habe, werde ich noch etwas mehr über deren Lebenswelt wissen. Und mit was sie zu kämpfen haben.